Petruschkis Fahrt ins Blaue - Kapitel 1 - Ins Blaue geträumt mit Derek Jarman
In einer schlaflosen Nacht im frühen Winter 2019 las ich von der Derek Jarmans Ausstellung Protest! in Dublin.
Ich war aufgeregt, ein Schwarm Vögel flatterte in den Himmel.
Derek Jarman, Künstler, Visonär, Maler, Regisseur, Autor und Gärtner hat mich mein Leben lang inspiriert.
Sehr jung sah ich das erste Mal einen Film von ihm.: -The Tempest- aus dem Jahr 1979 nach Shakespeares Sturm. Staunend verfiel ich damals der onirischen, queeren Atmospäre, verliebte mich in Ariel, den Luftgeist, bei dem ich mich gar nicht fragte, ob er Frau oder Mann war. Er war einfach ein sehr schönes trauriges Wesen. Ich zitterte vor Caliban und fürchtete um Miranda. Und ich lauschte der hypnotischen Stimme Prosperos.
Ich hörte den Atem, sah die Traumbilder in blaues Licht getaucht.
Derek Jarman sagte zu dem Film: "I hope to capture something of the mystery and atmosphere of the original without descending to theatrics. There are films where magic works."
“Ich hoffe, etwas von dem Geheimnis und der Atmosphäre des Originals einzufangen, ohne dass es ins Theatralische abfällt. Es gibt Filme, da wirkt Magie. “
Ich erlebte diese Magie, ich lebte einen atemberaubenden Traum, ganz wach und hingegeben und hörte die Voice-Over Stimme Prosperos am Ende sagen: “We are such stuff / As dreams are made on, and our little life / Is rounded with a sleep.”
“Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben ist eingebettet in einen Schlaf.”
-Blue- ist Jarmans letzter Film bevor er an seiner AIDS Erkrankung starb. Der Film zeigt ohne Unterbrechung oder Wechsel die Farbe Blau, unterlegt mit einer Toncollage aus seinen Texten, gesprochen von ihm und einigen ausgewählten Schauspielern, wie Nigel Terry und Tilda Swinton. Die Musik komponierte Simon Fisher-Turner. Derek Jarman war durch seine Krankheit erblindet. Auf die Frage, warum es in diesem Film keine Bilder gebe, antwortete Derek Jarman: “Because the virus is invisible.”
Aus dem Film -Blue- von 1993:
“For our time is the passing of a shadow. And our lives will run like sparks through the stubble.”
“Unsere Zeit ist ein vorbeigleitender Schatten. Und unsere Leben werden dahinrasen wie Funken im Stoppelfeld.”
Heute ist es mehr als ein Jahr nach dem Traum, der mich auf die Reise gebracht hat. Seit wir Ende Dezember 2019 zurückgekommen sind, hat sich das tägliche Leben verändert. Ende des Winters tauchte das Virus auf. Seitdem lebten wir mehr als 3 Monate in strenger Quarantäne. Es folgte ein Sommer mit anstrengenden Regeln und ohne wärmende Leichtigkeit.
Eines Nachts stand ich auf dem kleinen Balkon meines Zimmers und wollte mich über das Geländer beugen, um das dunkle Meer in der Ferne zu sehen. Stattdessen sah ich etwas weiter die Straße hinauf Gestalten in weißen Schutzanzügen, die lautlos aus dem Haus eines Nachbarn kamen und lautlos in ein weißes Auto mit blauem Licht stiegen. Da war es plötzlich. Das unsichtbare Virus.
Das habe ich in dem kleinen Dorf, in dem ich wohne, nicht mehr gesehen. Diese stille Bedrohung. Ein amerikanischer Horrorfilm. Es war ganz am Anfang. Ende März / Anfang April 2020. Und jetzt ist es plötzlich wieder da: das Virus. Natürlich nicht plötzlich, das ist Unsinn. Bereits im März war klar, dass es im Herbst und Winter wieder auftauchen würde. Eine Frage der Logik.
Trotzdem hatte ich die absurde Hoffnung, den irrationalen Glauben, dass es einfach verschwinden würde. Für ein wenig Unbeschwertheit. Die Einschränkungen sind hier nicht so streng wie im Frühjahr. Es gibt eine nächtliche Ausgangssperre und man darf das Dorf am Wochenende nicht verlassen. Das heißt, es darf auch niemand von außen kommen, aus den großen Städten. Da feiert das Virus eine ausgelassene Party. Ich berichte weiter.
Das ist Jarmans Tagebuch vom Januar 1989 bis September 1990. Rebecca Mead schreibt in ihrem Artikel -Reading Derek Jarman Is Strangely Consoling- vom 13. April in The New Yorker wie seltsam tröstend es ist, in diesen Zeiten von Corona in Derek Jarmans Tagebüchern -Modern Nature- zu lesen. Denn er beschreibt, was wir gar nicht fassen können, nur manchmal erahnen, in den Tweets von Notfallärzten oder den raren Reportagen aus den Corona-Stationen. Er schreibt davon wie ihn die Krankeit überwältigt und schafft es, das Erleben von Angst, die Befürchtungen und das Unbekannte in Worte zu fassen. Nachdem er monatelang von nächtlichen Schweissausbrüche in Angst gepeinigt wurde, schrieb er: “Das Bett ist durchnässt, überflutet, überschwemmt, aber ich habe entschieden, es zu geniessen, anstatt mich deswegen zu fürchten. Es ist wie die Entscheidung den Regen mit Lust zu erleben, anstatt in einen Unterschlupf zu flüchten.” Nur kurz wird er aus dem Krankenhaus entlassen, muss aber gleich wieder wegen einer schweren Lungenentzündung eingeliefert werden. “Die schattenhaften schwarzen Fledermäuse der Atemlosigkeit schwärmen durch den Abend und lassen sich in meinen Lungen nieder. Es gibt kaum etwas angsteinflößenderes als bei einem Hustenanfall seinen Atem zu verlieren. Umklammert von den samtenen Flügeln der Fledermäuse werfe ich die Bettdecke von mir…”
Das lese ich in diesen Zeiten und bin verblüfft, dass Jarman so nah ist, heute hier, in der Pandemie, mit dem Wiederlesen seiner Tagebücher.
Als ich in jener Nacht von der Ausstellung las, vibrierte in mir alles mit dem Wunsch, dorthin zu fahren. Ich wollte die Filme wiedersehen, Caravaggio Wittgenstein The Garden, seine Malereien betrachten, sein Universum betreten. Ich schlief ein und träumte diesen Traum: Mit dem Schiff des listenreichen Odysseus ging es über die wilde See, um Ulisses zu besuchen und seine Frau Penelope, auch Molly Bloom genannt. Jarman war der schöne Kapitän, der sich in einen Matrosen verwandelte als wir von Deck gingen. Wir zogen mit den Freunden durch die Dubliner Pubs und am Morgen verabschiedeten wir uns, mit dem Versprechen weiterzureisen.
Ich vermisste die Gefährten der Nacht. Ich wusste, ich würde mich auf den Weg machen nach Dublin. Nicht mit dem Flugzeug. Besser mit dem Schiff. Es gab keine Fähre nach Irland von dort, wo ich lebe. Also auf nach Frankreich. Und wenn ich schon unterwegs war, könnte ich doch auch einen Umweg über Paris machen.
Ich entdeckte bald, dass es in Paris eine Ausstellung von Hans Hartung gab, von El Greco, Toulouse-Lautrec, Bacon. Und Matisse, aber die war in Mannheim. Also auch dorthin auf der Reise nach Dublin? Es gab soviele verlockende Umwege, soviel zu sehen, soviele Freunde zu besuchen.
Ich begann mir eine Reise vorzustellen.
Ich hatte das große Glück, dass mein Sohn mich auf diese Reise begleitete. Als wir schliesslich in Dublin ankamen, lagen 5016 Kilometer hinter uns, wir hatten in 20 Tagen 21 Ausstellungen gesehen und viele Freunde besucht. Wir haben gestaunt und bewundert, fühlten uns inspiriert, angezündet und beglückt. Wir fuhren mit Zügen und Bussen und einmal sogar mit dem Schiff.
Das ist das Irish Museum of Modern Art, mit dem bezaubernden Frauenabkürzungsnamen IMMA. Hier also durfte ich Derek Jarmans Ausstellung Protest! sehen.
Alles haben wir nicht geschafft. Aber fast …